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06/25/2024 | Press release | Archived content

Gewinnung von Erkenntnissen über den Einsatz von Bakteriophagen gegen antimikrobielle Resistenzen

"Mein Vater fühlte sich kraftlos, als ob das Leben aus ihm herausflösse", erklärt seine Tochter Lies. Im Alter von 84 Jahren entwickelte Pim van Vliet nach einer Operation eine chronische Harnwegsinfektion, die auf ein multiresistentes Bakterium, Klebsiella pneumoniae, zurückzuführen war. Die hartnäckige Infektion hatte über mehrere Monate hinweg zahlreiche Krankenhausaufenthalte zur Folge und sprach nicht auf intravenöse Antibiotika an. Dann sah Pim von seinem Krankenhausbett im Königreich der Niederlande aus eine Fernsehsendung über die Behandlung mit Bakteriophagen am Eliava-Institut in Tiflis (Georgien).

Bakteriophagen, auch Phagen genannt, sind Viren, die selektiv Bakterien angreifen und abtöten. Diese natürlichen biologischen Einheiten sind in der Umwelt allgegenwärtig und können Bakterien zerstören, die gegen Medikamente wie Antibiotika resistent sind. Phagen stellen eine vielversprechende Alternative oder Ergänzung zu Antibiotika dar.

"Da mein Vater dem Tod nahe war, bat er mich, als letzten Ausweg das Eliava-Institut um Hilfe zu bitten", so Lies weiter. Seine Urinproben wurden angefordert und an die klinischen Mikrobiologen im Eliava-Institut geschickt, die in der Lage waren, die Bakterien zu isolieren und eine maßgeschneiderte Phagentherapie zu entwickeln.

Pim begann im Mai 2017 mit der Phagentherapie, und innerhalb weniger Tage trat eine deutliche Verbesserung seines Zustands ein. Nach etwas mehr als einem Monat Phagentherapie, die von Familienmitgliedern mit Unterstützung einer Pflegekraft zu Hause durchgeführt wurde, erholte sich Pim vollständig, ohne dass irgendwelche Nebenwirkungen verzeichnet wurden. Urologen bestätigten, dass die medikamentenresistenten Bakterien verschwunden waren. Seit der Phagentherapie hat Pim keine Harnwegsinfektion mehr erlebt und feierte kürzlich bei guter Gesundheit im Kreise seiner Familie seinen 91. Geburtstag.

Einsatz von Bakteriophagen im Rahmen eines einheitlichen Gesundheitsansatzes

"Mein Vater hat sich auf wundersame Weise erholt, und er hat eine beeindruckende Geschichte zu erzählen", so Lies. "Ich habe gelernt, dass durch den Einsatz von Bakteriophagen viel Leid verhindert werden kann, vor allem, wenn sie in einem frühen Stadium bei chronischen Infektionen eingesetzt werden. Wenn Gesundheitsfachkräfte über Phagen informiert und aufgeklärt werden, können diese sich das Wissen zu eigen machen und diese Therapie einsetzen - doch dazu brauchen wir eine Gesetzgebung, die ihren breiten Einsatz unterstützt", fügt sie hinzu.

Zu diesem Zweck führt WHO/Europa in Zusammenarbeit mit dem Global Antimicrobial Resistance Research and Development (R&D) Hub [Globale Schaltzentrale für die Forschung und Entwicklung im Bereich antimikrobielle Resistenzen] einen Dialog, um praktische Anwendungen für und Erkenntnisse über den Einsatz von Phagen zu untersuchen. Ziel dieser Initiative ist es, die wissenschaftliche Grundlage für eine potenzielle breitere Anwendung von Phagen bei der Bekämpfung antimikrobieller Resistenzen (AMR) zu stärken. Die Bekämpfung von AMR erfordert einen vielschichtigen Ansatz, der die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt berücksichtigt und als einheitlicher Gesundheitsansatz (One Health) bekannt ist. Für eine potenzielle breitere Anwendung der Phagentherapie sind jedoch solide Erkenntnisse über ihre Wirksamkeit, Sicherheit und Durchführbarkeit in allen Bereichen von One Health erforderlich.

Ohne wirksame Interventionen haben AMR das Potenzial, jahrzehntelange medizinische Fortschritte rückgängig zu machen, was zu erhöhter Morbidität, Mortalität und erhöhten Gesundheitskosten führen würde. AMR treten auf, wenn Mikroorganismen, wie Bakterien, Viren, Parasiten oder Pilze, gegen eine antimikrobielle Behandlung resistent werden, mit der sie zuvor bekämpft werden konnten. Das zunehmende Auftreten resistenter Erreger untergräbt die Wirksamkeit antimikrobieller Arzneimittel und macht einst behandelbare Infektionen bei Menschen, Tieren und Pflanzen zunehmend schwieriger und in einigen Fällen sogar unmöglich zu behandeln.

Die Vorteile einer personalisierten Versorgung

Die Tochter von Lydia Roelof, Marit, litt im Alter von 3 bis 11 Jahren an chronischen Harnwegsinfektionen. Marit wurde mehrere Monate lang mit Antibiotika behandelt, aber nichts schien zu helfen. Die Krankenhausaufenthalte nahmen kein Ende, unterbrachen die Schule und beeinträchtigten Marits Lebensqualität. "Zunächst besserte sich die Infektion mit den verschriebenen Antibiotika, doch sie kam immer wieder zurück und schien jedes Mal schlimmer zu werden", erklärt Lydia. Schließlich entzündete sich Marits Niere und sie wurde ins Krankenhaus eingeliefert und dort mit intravenösen Antibiotika behandelt.

Ähnlich wie Pim entdeckte auch Lydia das Eliava-Institut durch eine Fernsehsendung in den Niederlanden. Weltweit gibt es nur eine begrenzte Anzahl von Instituten und Kliniken, die sich mit der Anwendung von Bakteriophagen im Bereich der menschlichen Gesundheit befassen.

"Unsere Klinik hat seit 2018 über 8400 Patienten aus der ganzen Welt mit einer maßgeschneiderten Phagentherapie behandelt", sagt Dr. Mariam Dadiani, Ärztin für Innere Medizin am Eliava Phage Therapy Centre in Georgien. "Wir verfolgen einen patientenorientierten Ansatz, indem wir eine personalisierte Versorgung anbieten. Es ist sehr wichtig, das Bewusstsein für die Rolle von Bakteriophagen bei der Behandlung von multiresistenten chronischen Infektionen zu schärfen. Hinter unseren einzelnen Erfolgsfällen steht die Evidenz, die die Entwicklung der Phagentherapie für eine breite Anwendung in der menschlichen Gesundheit unterstützt", bemerkt sie.

Marit und ihre Mutter reisten 2018 zum Eliava Phage Therapy Centre, wo bei Marit eine Infektion mit multiresistenten E. coli-Bakterien diagnostiziert wurde. Sie begann eine 14-tägige Behandlung mit Phagen während ihres Aufenthalts in der Klinik und setzte nach ihrer Rückkehr nach Hause die Phagentherapie für weitere sechs Monate fort. Sie fühlte sich von Tag zu Tag besser, hatte weniger Schmerzen und mehr Energie, und schließlich konnte sie ohne Unterbrechung wieder zur Schule gehen. Als die Ärzte sie erneut untersuchten, waren die Bakterien verschwunden, und die Infektion ist seitdem nicht mehr zurückgekehrt.

Heute ist Marit eine 18-jährige, gesunde Frau, die eine Ausbildung zur Kindererzieherin macht und gerne Sportarten wie Korfball ausübt. Erfolgsgeschichten von Menschen wie Pim und Marit unterstreichen den Wert einer personenorientierten Versorgung und zeigen, dass die Phagentherapie einen vielversprechenden Beitrag zur Bewältigung der AMR-Krise leisten kann.

WHO/Europa verpflichtet sich zu Maßnahmen gegen AMR

Die Zukunftsvision für die Europäische Region der WHO im Bereich AMR besteht darin, dass bis 2030 Menschen und Tiere in einer gesünderen Umgebung sicherer vor schwer behandelbaren resistenten Infektionen sind. Um dies zu erreichen, haben die 53 Mitgliedstaaten in der Europäischen Region den Fahrplan zur Bekämpfung antimikrobieller Resistenzen (2023-2030) gebilligt, der die Länder der Region dabei unterstützt, hochwirksame Maßnahmen zur Eindämmung der Auswirkungen von AMR zu identifizieren, zu priorisieren und umzusetzen. WHO/Europa setzt sich für die Bewältigung der globalen gesundheitlichen Herausforderung von AMR ein, u. a. durch Innovation und Forschung, die als befähigende Einflussfaktoren für die im Fahrplan genannten Handlungsfelder identifiziert wurden. Die Entwicklung und Erweiterung der Evidenzgrundlage für die Phagentherapie im Hinblick auf eine potenziell breitere Anwendung von Bakteriophagen steht im Einklang mit dieser Verpflichtung.

Der Fahrplan verfolgt einen auf den Menschen ausgerichteten Ansatz, da er darum bemüht ist, die Menschen als Partner bei der Bekämpfung von AMR einzubeziehen und entsprechend zu befähigen. Persönliche Geschichten von Überlebenden von AMR schärfen das Bewusstsein dafür, was es bedeutet, an chronischen, unbehandelbaren Infektionen zu leiden, und bringen die Auswirkungen von AMR auf das Leben der Menschen stärker an die Öffentlichkeit. Solche Geschichten stehen für die integrale Beziehung zwischen Menschen, Fachkräften und dem Gesundheits- und Pflegesystem und verdeutlichen die Vorteile einer personalisierten Versorgung.

WHO/Europa bringt in Partnerschaft mit dem Global AMR R&D Hub Experten zusammen, um die regulatorischen und gesetzlichen Anforderungen für den Einsatz von Bakteriophagen aus der Perspektive von One Health zu ermitteln. In einer Reihe von Webinaren wurden die Chancen und Herausforderungen einer Anwendung von Bakteriophagen erörtert. Ziel ist es, den aktuellen Wissensstand und Lücken zu untersuchen und Strategien für die Gewinnung von Evidenz zu identifizieren, um den breiteren Einsatz von Phagen als Instrument zur Bekämpfung von AMR zu unterstützen.