Bundesland Niedersachsen

03/07/2024 | Press release | Distributed by Public on 02/07/2024 22:09

Außergewöhnliche Gehbehinderung: Notwendigkeit einer weit geöffneten Wagentür beim Ein- und Aussteigen und eine gelegentliche Sturzgefahr rechtfertigen das Merkzeichen aG nicht.

Das Sozialgericht Braunschweig hat eine Klage wegen der Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen aG (außergewöhnlich gehbehindert) abgewiesen. Das Merkzeichen aG berechtigt zum Parken auf sog. Behindertenparkplätzen und ist häufig Gegenstand von Klagen im Schwerbehindertenrecht vor dem Sozialgericht.

Der Kläger, der unter Funktionsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule, des Knies, der Hüfte und unter wiederkehrenden Gleichgewichtsstörungen leidet und Probleme beim Ein- und Aussteigen in sein Fahrzeug geltend machte, hatte mit seiner Klage vor dem Sozialgericht Braunschweig keinen Erfolg.

Das Sozialgericht stellte fest, dass der Kläger die strengen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG nicht erfüllt, weil er noch über ein ausreichendes Restgehvermögen von 100m und mehr verfügt. Der Kläger ist nicht auf die Verwendung eines Rollstuhls auch für sehr kurze Entfernungen angewiesen; er kann sich mithilfe von Unterarmgehstützen bewegen. Der Kläger muss auch nicht nach kürzester Strecke schmerz- oder erschöpfungsbedingt eine Pause einlegen, bevor er weitergehen kann. Es besteht beim Kläger auch keine Sturzgefahr, die so ausgeprägt ist, dass er praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeugs an dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Auch das Argument des Klägers, dass er die breiten Behindertenparkplätze benötige, um die Autotür beim Aus- und Einsteigen weit genug öffnen zu können, um sich festhalten und sein Bein heraus oder hereinheben zu können, überzeugte das Gericht nicht.

Das Sozialgericht Braunschweig bestätigt in seiner Entscheidung, dass es bei der bisherigen engen Auslegung der Voraussetzungen für das Merkzeichen aG bleibt, um dem Gesetzesziel gerecht zu werden, damit trotz des nicht beliebig vermehrbaren Parkraums in den Innenstädten die Behindertenparkplätze der eigentlichen Zielgruppe unter den schwerbehinderten Menschen vorbehalten bleiben. Die Notwendigkeit des vollständigen Öffnens der Pkw-Türen rechtfertigt nicht die Feststellung des Merkzeichens aG.

Sozialgericht Braunschweig, Urteil vom 28. Februar 2024, Az. S 11 SB 373/20, juris, beck-online

Zum Hintergrund:

Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen - (Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB IX)

§ 229 Persönliche Voraussetzungen

[…]

(3) 1Schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht. 2Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. 3Hierzu zählen insbesondere schwerbehinderte Menschen, die auf Grund der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung - dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen - aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sind. 4Verschiedenste Gesundheitsstörungen (insbesondere Störungen bewegungsbezogener, neuromuskulärer oder mentaler Funktionen, Störungen des kardiovaskulären oder Atmungssystems) können die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen. 5Diese sind als außergewöhnliche Gehbehinderung anzusehen, wenn nach versorgungsärztlicher Feststellung die Auswirkung der Gesundheitsstörungen sowie deren Kombination auf die Gehfähigkeit dauerhaft so schwer ist, dass sie der unter Satz 1 genannten Beeinträchtigung gleich kommt.