Landkreis Darmstadt-Dieburg

04/07/2024 | Press release | Distributed by Public on 04/07/2024 06:19

Kaum Reaktionen auf den Hilferuf des Psychosozialen Beirats

Totale Überlastung des psychiatrisch-psychoszialen Hilfesystems

04.07.2024

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Ein Schwimmflügel, den Psychiatriekoordinatorin Jutta Schwibinger trägt, soll das "Absaufen" des psychiatrisch-psychosozialen Hilfesystems symbolisieren. Der Psychosoziale Beirat mit Kreisbeigeordneter Christel Sprößler (weiße Hose) an der Spitze hatte bereits im vergangenen Jahr darauf aufmerksam gemacht. Geändert hat sich bislang nichts. Foto: Lisa Lange

Vor knapp einem Jahr wusste sich der Psychosoziale Beirat des Landkreises Darmstadt-Dieburg und der Stadt Darmstadt nicht anders zu helfen und verschickte eine "Anzeige der totalen Überlastung und Aufforderung zur Verhinderung des völligen Zusammenbruchs des psychiatrisch-psychosozialen Hilfesystems". Das Gremium, dem mehr als 30 Einrichtungen, Verbände, Behörden und Organisationen angehören, hat das Ziel, die sozialpsychiatrische Versorgung in Darmstadt und dem Landkreis Darmstadt-Dieburg zu fördern und weiterzuentwickeln. "Es ist auch ein wichtiger Ort, um klarzustellen, an welche Grenzen unser System stößt", erklärt die Sozialdezernentin und Kreisbeigeordnete des Landkreises Darmstadt-Dieburg, Christel Sprößler, "wir hören in diesem Gremium genau, wo der Schuh drückt." Und er drückt nach wie vor gewaltig. Am Tag der seelischen Gesundheit am 10. Oktober 2023 dokumentierte das Netzwerk sogar mit Schwimmflügeln, dass das "System am Absaufen ist", wie es Jutta Schwibinger, Psychiatriekoordinatorin beim gemeinsamen Gesundheitsamt für die Stadt Darmstadt und den Kreis ausdrückt. Nur war die Resonanz auf diesen Brief, der nicht nur an Ministerpräsident Boris Rhein und Hessens Innenminister Peter Beuth, sondern auch an 22 andere Politiker, Träger, Parteien und Verbände ging, bislang äußerst gering. Im Prinzip blieb es bei Empfangsbestätigungen und die Nachricht, den Brief weitergeleitet zu haben - an das hessische Sozialministerium. Von dort gab es dann auch eine Antwort. In der heißt es unter anderem, dass es zur Sicherstellung einer guten psychiatrischen Versorgung einer Vielzahl von Maßnahmen bedürfe, die "sowohl auf regionaler Ebene in den Gemeindepsychiatrischen Verbünden und im Rahmen der zuständigen Gesundheitskonferenzen diskutiert und entwickelt als auch übergreifend angegangen werden müssen". Die Fachreferate des Ministeriums seien zur Klärung von Handlungs- und Steuerungsoptionen "im engen Austausch" und beteiligten sich an "verschiedenen ressortübergreifenden Initiativen sowie überregionalen Arbeitsgruppen, die sich lösungsorientiert mit der Versorgungslage befassen". Die Antwort kam im Juli 2023.

Passiert ist aber seit dieser Zeit nichts. Also wiederholen Christel Sprößler, die derzeit den Vorsitz des Gesundheitsamtes innehat und deshalb auch Vorsitzendes des Psychosozialen Beirats ist, und Jutta Schwibinger, die auch Geschäftsführerin des Beirats ist, den dringenden Hilferuf. Denn die Mängelliste ist nach wie vor lang: Die Wartezeit für Erstgesprächstermine bei Fachärzten und Psychotherapeuten beträgt derzeit ein Jahr und länger; in Kliniken werden Stationen wegen des fehlenden Personals vorübergehend oder dauerhaft geschlossen; ausländische Fachkräfte in Hessen erhalten nur über immense bürokratische und damit kaum zu bewältigende Hürden eine formale Anerkennung, um hier arbeiten zu dürfen; beim verbliebenen, zeitlich überforderten Personal steigt die Fehlerquote, erhebliche qualitative Einbußen bei der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben müssen in Kauf genommen werden, fachliche Standards können nicht mehr gehalten werden; akut psychisch erkrankte sowie chronisch erkrankte Menschen können schon jetzt wegen des zunehmenden Fachkräftemangels weder vom stationären Bereich (Aufnahme in den Kliniken) noch von ambulant tätigen Einrichtungen ausreichend versorgt werden und die bürokratischen Anforderungen, um Hilfe zu gewährleisten, sind viel zu hoch.

Dabei ist der Bedarf vorhanden: "Es gibt keine Familie mehr oder kein System mehr, die oder das nicht mehr in Berührung kommt mit dem psychosozialen System", erklärt Jutta Schwibinger. Bei Suiziden in Südhessen etwa hat die Anzahl in den vergangenen zwei Jahren um ein Viertel zugenommen. Jeder Fünfte hat in seinem Leben eine Depression, Einsamkeit und Isolation oder Burnout wegen Anforderungen in der Berufswelt sind die Stichworte. "Steigender Bedarf trifft auf Fachkräftemangel und klamme Kassen, das wird eskalieren", umschreibt Schwibinger das Problem. "Dabei sind Gesundheit und Frieden unsere wichtigsten Güter."

Sowohl Schwibinger als auch Sprößler wünschen sich eine Einsicht auf einer politischen Ebene, die gegensteuern könnte. Der Landkreis kann es nicht. "Ein Einsehen in die Wichtigkeit des Themas auf höchster politischer Ebene ist unser Wunsch", sagt Schwibinger stellvertretend für die Mitglieder des Beirats. Denn: Prävention und eine frühzeitige Diagnose und Behandlung psychischer Erkrankungen erspare nicht nur dem Betroffenen und den Angehörigen viel Leid, auch Gesellschaft und Staat werden dadurch vor hohen Kosten bewahrt. In diesem sensiblen Bereich sei es nicht zu verantworten abzuwarten, bis "das Kind in den Brunnen gefallen ist", sagt Schwibinger. Der Hilferuf des Psychosozialen Beirats zeige, dass es bis zum Brunnen nicht mehr weit sei.

tb

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