Bundesland Niedersachsen

09/06/2024 | Press release | Distributed by Public on 09/06/2024 06:59

Stellungnahme zu dem Klageverfahren eines Asylbewerbers, der verdächtigt wird, in Sarstedt einen Mann niedergestochen zu haben

Zu dem Fall erreichen das Verwaltungsgericht Hannover eine Vielzahl von Presseanfragen. Das Verwaltungsgericht Hannover hat sich daher entschieden, mit einer Pressemitteilung auf diese und eventuelle weitere Anfragen zu reagieren. Sollten Ihre Fragen in dieser Pressemitteilung nicht (hinreichend) beantwortet werden oder Sie weitere Fragen haben, wenden Sie sich bitte weiterhin an die Pressestelle des Verwaltungsgerichts

Zum Sachverhalt:

Das Asylverfahren des 35-Jährigen Asylbewerbers, der am 02.09.2024 einen 61 Jahre alten Mann (Leiter einer Flüchtlingsunterkunft) mit einem Messer niedergestochen haben soll, ist seit dem 01.09.2022 am Verwaltungsgericht Hannover anhängig.

Er stellte am 01.02.2017 erstmals einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), der mit der Begründung als unzulässig abgelehnt wurde, dass Polen für die Bearbeitung zuständig sei. Der Bescheid wurde bestandskräftig. Daraufhin wurde er nach Polen überstellt.

Nach seiner Wiedereinreise stellte er am 29.06.2022 erneut einen Asylantrag beim BAMF, einen sogenannten Zweitantrag. Auch dieser Antrag wurde vom BAMF als unzulässig abgelehnt und mit einer Abschiebungsandrohung in den Irak versehen.

Am 01.09.2022 hat der Kläger gegen den ablehnenden Bescheid Klage erhoben und das Gericht um vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebungsandrohung ersucht. Das Gericht hat am 07.09.2022 die Beteiligten darauf hingewiesen, dass vor der vom BAMF getroffenen Entscheidung die Einholung von Unterlagen über den Ausgang des Asylverfahrens in Polen erforderlich gewesen wäre. Zu diesem Hinweis hat das BAMF sich nicht geäußert.

Am 28.09.2022 hat das Gericht dem Eilantrag des Klägers stattgegeben. Zur Begründung führte es aus, durch die mangelnden Unterlagen aus dem polnischen Asylverfahren sei dessen Ausgang nicht geklärt. Die vorliegende "Zweitantragssituation" erfordere aber nach § 71a Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) ein abgeschlossenes Asylverfahren in einem sicheren Drittstaat (hier: Polen).

Im laufenden Klageverfahren hat das BAMF die erforderlichen Unterlagen aus Polen am 29.12.2022 vorgelegt.

Am 28.10.2022 hatte allerdings das Verwaltungsgericht Minden die Regelung des Zweitantragverfahrens (§71a Abs. 1 Asylgesetz) dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelegt. Dieser hat nun zu entscheiden, ob und inwieweit die Vorschrift europarechtskonform ist. Wann mit einer Entscheidung des EuGH's gerechnet werden kann, ist ungewiss.

Vor diesem Hintergrund hält die zuständige 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Hannover das laufende Klageverfahren noch nicht für entscheidungsreif. Das gegen den Kläger laufende Strafverfahren hat auf die in dem Asylverfahren zu beantwortenden Fragen keinen Einfluss.

Aktenzeichen des Klageverfahrens: 3 A 3702/22

Tiefergehende Informationen zu den Rechtsfragen um den Zweitantrag entnehmen Sie bitte den unten stehenden Informationen.

Personalausstattung:

Da es mehrere Presseanfragen gibt, die sich unabhängig von dem in Rede stehenden Verfahren allgemein zur Situation der Bearbeitung von Asylverfahren am Verwaltungsgericht Hannover verhalten, wird hierzu angemerkt:

Die aktuell aus den jeweiligen Jahren anhängigen Asylverfahren, die Eingänge an Asylverfahren in den jeweiligen Jahren und der Bestand an anhängigen Asylverfahren jeweils zum Jahresende (bzw. am 06.09.2024) ergibt sich aus folgender Übersicht:

Übersicht Asylverfahren (Stand 6.9.2024)

Aktuell anhängige Verfahren

Eingänge Asylverfahren

Bestand Asylverfahren

Jahr

Anzahl

Jahr

Anzahl

Jahr

Anzahl

2017

4

2017

4712

2017

5392

2018

25

2018

3631

2018

5824

2019

72

2019

1812

2019

5268

2020

171

2020

1888

2020

4706

2021

215

2021

1794

2021

4189

2022

485

2022

2180

2022

3414

2023

744

2023

2428

2023

2871

2024

985

2024

1593

2024

2701

Gesamt

2.701

Gesamt

20.038

Der Umstand, dass die Bearbeitung von Asylklageverfahren in nennenswertem Umfang mehrere Jahre in Anspruch nimmt, hat eine wesentliche Ursache in der Belastungssituation des Gerichts. Die Belastung der Gerichte wird nach einem System namens PEBB§Y berechnet. Die Belastung des Verwaltungsgerichts Hannover war, wie sich aus der nachstehenden Übersicht ergibt, in den letzten Jahren immer und zum Teil deutlich über 1,0 (also 100%).

Übersicht Pebb§y Verwaltungsgericht Hannover

Jahr

Soll = erforderliche Richterarbeitskraft

tats. Einsatz richterlicher Arbeitskraft

die daraus errechnete Pebb§y-Belastung

2016

53,23

39,26

1,36

2017

75,75

43,64

1,74

2018

55,85

42,36

1,32

2019

49,47

41,99

1,18

2020

49,18

42,95

1,15

2021

51,19

39,84

1,29

2022

47,58

44,96

1,06

2023

47,39

44,25

1,07

Trotz dieser Belastung konnte der Bestand der Verfahren in den letzten Jahren nicht unerheblich reduziert werden. Die Zahlen bezeichnen die zum Jahresende anhängigen Verfahren (allgemeine Verfahren und Asylverfahren):

2019: 8.870 anhängige Verfahren

2020: 7.925 anhängige Verfahren

2021: 8.010 anhängige Verfahren

2022: 6.916 anhängige Verfahren

2023: 5.672 anhängige Verfahren

2024: 5.827 anhängige Verfahren (Stand jetzt)

Ein weiterer Abbau des Bestandes an Verfahren und eine Reduzierung der Laufzeiten von (Asyl)-Verfahren setzt eine angemessene Personalausstattung voraus, die bereits in der Vergangenheit nicht auskömmlich war. Im laufenden Jahr hat sich die Zahl der am Verwaltungsgericht Hannover tätigen Richter*innen verringert. In den Jahren 2022 und 2023 standen nach der Statistik im Jahresdurchschnitt 44,96 bzw. 44,25 Richterarbeitskraft (AKA) zur Verfügung, im ersten Halbjahr des Jahres 2024 lediglich 41,24. Das erklärt auch den Anstieg der Verfahren im Jahr 2024.

Informationen über die Belastung der niedersächsischen Verwaltungsgerichte mit Asylverfahren ergeben sich auch aus dem Geschäftsbericht des Präsidenten des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 1. August 2024: https://oberverwaltungsgericht.niedersachsen.de/aktuelles/statistik/geschaftsbericht-der-niedersachsischen-verwaltungsgerichtsbarkeit-fur-das-jahr-2023-beschleunigung-asylgerichtlicher-verfahren-an-den-verwaltungsgerichten-trotz-weiterem-anstieg-der-asyleingange-und-gelungene-reduzierung-der-bestande-234313.html

Europarechtskonformität von § 71a AsylG:

Für die Entscheidung über die Klage des mutmaßlichen Täters von Sarstedt gegen den Bescheid des BAMF vom 23.08.2022, mit dem sein Asylantrag als "unzulässig" abgelehnt wurde, kommt es u.a. darauf an, ob die Rechtsgrundlagen, auf die sich der Bescheid stützt - § 29 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 71a AsylG - europarechtskonform sind.

§ 71a AsylG regelt das sog. "Zweitantragsverfahren".

Als Zweitanträge werden danach Asylanträge verstanden, die ein Asylbewerber in Deutschland stellt, nachdem er in einem anderen EU-Mitgliedsstaat ein Asylverfahren bereits erfolglos - d.h. vollständig mit dortigem rechts- bzw. bestandskräftigem Abschluss - durchlaufen hatte.

Das Verwaltungsgericht Minden hat die Europarechtskonformität dieser Regelung in zwei Entscheidungen vom 28.10.2022 (u. a. Az. 1 K 1829/21.A, juris) als mit Zweifeln behaftet bewertet, deshalb die dortigen Verfahren ausgesetzt und dem EuGH zur Klärung der Europarechtskonformität vorgelegt.

Diese Vorlagen haben nachfolgend mehrere Verwaltungsgerichte, Obergerichte und auch das BVerwG zum Anlass genommen, dort anhängige Verfahren auszusetzen, um die Entscheidung des EuGH's abzuwarten.

Die Obergerichte (insb. das OVG NRW) haben in diesem Zusammenhang erstinstanzliche ablehnende Eilentscheidungen der Untergerichte abgeändert und Eilrechtsschutz gemäß § 80 Abs. 7 VwGO gewährt.

In einer solchen Situation kommt nach Auffassung der 3. Kammer des Verwaltungsgerichts ein "Durchentscheiden" über die Klage nur in Betracht, wenn sie die Europarechtskonformität von § 71a AsylG als einen sog. "acte clair" ansehen würde. Das hieße, dass die Europarechtskonformität der Regelung so offensichtlich ist, dass es einer Entscheidung des EuGH`s dazu an sich gar nicht bedürfte, jedenfalls diese Frage vom EuGH offensichtlich dahingehend beantwortet werden wird, dass § 71a AsylG europarechtskonform ist.

Ob insoweit von einem "acte clair" auszugehen ist, ist in der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit hoch umstritten (vgl. dazu auch stattgebenden Kammerbeschluss des BVerfG vom 13.08.2024 - 2 BvR 44/24 -, juris Rn. 21). Die 3. Kammer geht unter Berücksichtigung der instanzenübergreifenden Entscheidungen, die das verneinen, ebenfalls nicht davon aus.