15/11/2024 | Press release | Distributed by Public on 15/11/2024 22:10
EiÜ 39/24
Anwaltliche Erfolgshonorare bedrohen Meinungsfreiheit - EGMR
Wenn eine vor Gericht unterlegene Verlagsgesellschaft das unverhältnismäßig hohe anwaltliche Erfolgshonorar des Klägers tragen muss, so verletzt dies die Meinungsfreiheit i.S.d. Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Extrem hohe anwaltliche Erfolgshonorare könnten das Prozesskostenrisiko für Medienunternehmen nämlich so stark erhöhen, dass sie im Zweifel auf eine Berichterstattung verzichten. Dies befand der Europäische Gerichthof für Menschenrechte (EGMR) am 12.November 2024 (Beschwerdenr. 37398/21). Die Beschwerdeführerin, die britische Verlagsgesellschaft der Daily Mail, war wegen einer persönlichkeitsverletzenden Berichterstattung über einen lybischen Geschäftsmann zu Schadensersatz, aber auch zur Zahlung von fast 250.000 GBP für ein anwaltliches Erfolgshonorar verurteilt werden - ein Verstoß gegen die Meinungsfreiheit. Dass die unterlegene Gesellschaft nach einer anderen persönlichkeitsverletzenden Berichterstattung für die Versicherungsprämien des Klägers aufkommen muss, die dessen Rechtskostenrisiko voll abdecken ("After the event-Versicherung"), ist jedoch zulässig.
Anhörung des künftigen Industriekommissars - KOM/EP
Stéphane Séjourné, der designierte Kommissionsvizepräsident für Wohlstand und Industriestrategie, betonte in seiner Anhörung vom 12. November 2024 seinen Reformwillen. Das Vergaberecht solle reformiert werden und ein "28. Regime" für einen einheitlichen rechtlichen Bezugsrahmen für grenzüberschreitend tätige Unternehmen geschaffen werden. Hierbei müsse etwa festgelegt werden, welche Gerichte zuständig sind. Dieses Regime hatte zuvor auch bereits Enrico Letta in seinem Bericht zur Zukunft des Binnenmarkts vorgeschlagen (vgl. EiÜ 15/24) und liegt federführend in der Verantwortung des designierten Justizkommissars McGrath (vgl. EiÜ 38/24). Aktuell blockierte Patentrechtsvorschläge sollten schnellstmöglich verabschiedet und Zugangsbeschränkungen bei freien Berufen überprüft werden. Berufsqualifikationsanerkennungen innerhalb der EU sollten weiter vereinfacht werden. Séjourné dürfte die Probe bestanden haben, sodass von einer positiven Empfehlung durch die Präsidentenkonferenz auszugehen ist.
Konsultation: Umsetzung der KI-Verordnung beginnt - KOM
Am 13. November 2024 veröffentlichte das in der Generaldirektion für Kommunikationsnetzte, Inhalte und Technologien (DG CNECT) ansässige Amt für künstliche Intelligenz (AI Office) die erste Konsultation in Bezug auf die Umsetzung der am 2. August 2024 in Kraft getretenen KI-Verordnung (vgl. zum AI Office zuletzt EiÜ 22/24). Konkret geht es die Definition von KI sowie die in Artikel 5 der Verordnung niedergelegten Verbotspraktiken. Der DAV hatte sich bereit dazu im Rahmen einer Abfrage des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz mit der Stellungnahme Nr. 67/24 eingebracht (vgl. EiÜ 31/24). Die Vorschriften zu den Verbotspraktiken werden bereits am 2. Februar 2025 in Kraft treten. Eine Beteiligung an der Konsultation ist bis zum 11. Dezember 2025 hier möglich.
Mitmutterschaft nur nach Adoption möglich - EGMR
In seinem am 12. November 2024 verkündeten Urteil (abrufbar auf Französisch) entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass die deutsche Rechtspraxis, die Mutter, die ein Kind gebärt, als alleinige rechtliche Mutter zu bestimmen und eine Co-Mutterschaft nur über eine Adoption zu ermöglichen, nicht gegen Artikel 8 EMRK verstößt (Rs. 46808/16). Nach deutschem Recht wird eine doppelte Mutterschaft derzeit nicht anerkannt, wenn ein Kind durch In-vitro-Fertilisation mit der Eizelle einer Frau gezeugt, aber von deren Partnerin ausgetragen wurde. Die Beschwerdeführerinnen hatten hierzu in ihrem Fall argumentiert, dass der genetischen Mutter automatisch auch das Elternrecht zugesprochen werden müsse. Nach deutschem Recht stellt § 1591 BGB jedoch klar, dass die Frau, die das Kind gebärt, rechtliche Mutter ist. Die Eizellspende, auf die das Paar in Belgien zurückgriff, ist in Deutschland verboten. Das Familienleben der Beschwerdeführerinnen werde laut Gericht durch diese Regelung jedoch nicht in einer Weise beeinträchtigt, die einen Verstoß gegen Artikel 8 darstellen würde, da die 'genetische Mutter' im Alltag bereits elterliche Rechte wahrnehmen konnte und eine Adoption möglich war. Auch eine Diskriminierung gegenüber heterosexuellen Paaren stellte der EGMR nicht fest, eine mit der eines Vaters in den Fällen des § 1592 Nr. 1 oder 2 BGB vergleichbare Situation bestehe nicht. Zudem betonte der Gerichtshof den weiten Ermessensspielraum der Staaten in ethisch sensiblen Fragen.
EU-Kommission sondiert zum EU-Justizbarometer - KOM
Die EU-Kommission hat eine Sondierung zu den zukünftigen Ausgaben des EU-Justizbarometers veröffentlicht. Das Justizbarometer gehört zum Instrumentarium der EU zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit. Es enthält verschiedene Indikatoren zur Bemessung der Unabhängigkeit, der Qualität und Effektivität der Justizsysteme in den Mitgliedstaaten (vgl. zuletzt EiÜ 23/24). Die Daten des Justizbarometers fließen u.a. in den Rechtsstaatlichkeitsbericht sowie die länderspezifische Analyse im Rahmen des Europäischen Semesters ein. Eine Rückmeldung im Rahmen der Sondierung ist bis zum 6. Dezember 2024 hier möglich.
Ein Dämpfer für die Klimabewegung? - NDL
Am 12. November 2024 kippte ein niederländisches Berufungsgericht ein weitreichendes Klimaurteil eines niederländischen Bezirksgerichts aus 2021, wonach Shell seinen CO2-Ausstoß nun doch nicht reduzieren muss (Urteil auf Englisch hier abrufbar). Die Stattgabe der Berufung als Sieg des Konzerns einzuordnen wäre jedoch falsch. Das Gericht führt aus, dass die rechtlichen Klimaschutzverpflichtungen für Unternehmen, auf die die Umweltverbände ihre Klage begründeten, zu bejahen sind. Allerdings ist Shell im Hinblick auf die eigenen Emissionen (sog. Scope 1 und 2-Emissionen) bereits dabei diese zu reduzieren, sodass keine Gefahr eines Verstoßes gegen eine Klimaschutzpflicht festzustellen ist. Darüber hinaus sind die indirekten Emissionen (sog. Scope 3-Emissionen), d.h. die der Zulieferer und Kunden, zwar eine Verantwortung von Shell, aber im konkreten Fall fehle der Maßstab der notwendigen Emissionsreduktion. Bei genauerer Betrachtung bestätigt das niederländische Gericht damit eine Pflicht auch von Privaten internationale Klimaschutzabkommen einzuhalten und bejaht sogar die Zurechnung der indirekten Emissionen an das Unternehmen. Eine Revision ist zu erwarten. Die Strahlwirkung des Urteils über die niederländischen Grenzen hinaus dürfte kaum zu unterschätzen sein. Ähnliche Verfahren gegen deutsche Automobilkonzerne laufen bereits.
Schutzbedürftiger ohne Rechtsbeistand verhört: EU-Recht verletzt - EuGH
Am 14. November 2024 legte die Generalanwältin Ćapeta ihre Schlussanträge im Vorabentscheidungsersuchen C-530/23 vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vor. Im Falle einer psychisch erkrankten Person, welche in Polen ohne Anwesenheit eines Rechtsbeistands von der Polizei vernommen wurde, sieht die Generalanwältin eine Verletzung von EU-Recht. Trotz offensichtlicher Anzeichen seiner Schutzbedürftigkeit wurden weder Feststellungen dazu getroffen noch Prozesskostenhilfe gewährt. Gemäß Artikel 13 der Richtlinie zum Recht auf Rechtsbeistand im Strafverfahren 2013/48/EU müssen Mitgliedstaaten die besonderen Bedürfnisse schutzbedürftiger Verdächtiger berücksichtigen und sicherstellen, dass ihnen gemäß Artikel 3 Absatz 2 unverzüglich ein Rechtsbeistand zur Verfügung steht. Artikel 9 der Prozesskostenhilferichtlinie 2016/1919/EU verpflichtet die Staaten zudem dazu, Prozesskostenhilfe zu gewähren, insbesondere wenn Freiheitsentzug droht (Artikel 4 Absatz 1 und 5). Die Generalanwältin betont, dass nationale Behörden bei Anhaltspunkten für Schutzbedürftigkeit selbstständig verpflichtet sind, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um die Verteidigungsrechte zu gewährleisten. Zudem sollten nationale Gerichte die Möglichkeit haben, Beweismittel auszuschließen, die unter Verletzung der Verteidigungsrechte erlangt wurden.